Noch hätten die Wassertemperaturen an der Alten Donau mit 20 Grad eine gewisse Schwimmerfreundlichkeit versprochen. Nachdem jedoch die Lufttemperaturen um deutliche sechs Grad darunter liegen, ein lebhafter Nordwind garniert mit Regentropfen aus Richtung Bisamberg und Kaisermühlen über die verlassenen Ufer bläst, die Befindlichkeit um die Zehn-Grad-Marke liegt, hat sich der Badebetrieb an diesem Frühherbsttag von x auf null reduziert. Bis auf eine Ausnahme.
Wir trafen diesen „Ausnahme-Herren“ – und schicken gleich voraus, dass er im Jänner 85 geworden ist – im „Sommerdomizil“ der Familie, nur durch einen parkähnlichen Garten und einen Radweg von der Alten Donau getrennt, wo er noch vor einer Stunde seine tägliche Wassergymnastik absolviert hat.
Das Wetter? Für ihn kein Thema, geschwommen wird bei jedem Wetter. „Abenteuer Alter“ traf jenen Mann, dem das „Profil“ einmal eine Umschlagseite mit Foto und dem Titel „Österreichs gefragtester Manager“ widmete, der eine entscheidende Phase seines Lebens in Leoben verbrachte, heute noch beste Beziehungen in die obersteirische Montanmetropole unterhält und sich als „Doppel-Dirigent“ einen weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannten Namen und am politischen Parkett als Verkehrsminister eine gute Figur machte, kurzum: Rudolf Streicher.
Vorerst eine kurze Erklärung zum „Doppel-Dirigenten“: Rudolf Streicher dirigierte jahrzehntelang Staats- und andere Großbetriebe mit tausenden Mitarbeitern, heimste dabei großen Applaus ein, lernte auch Misstöne zu ertragen, und er dirigiert immer noch große Orchester, vor allem „seine“ Donauphilharmonie Stockerau, der er als Dirigent und künstlerischer Leiter seit mehr als 35 Jahren vorsteht. Dazu kommen 26 Jahre als Präsident der Wiener Symphoniker, erst im vergangenen Sommer legte er diese Funktion zurück.
Er dirigierte große Betriebe und große Orchester
In die Wiege gesungen war es dem im Jänner 1939 in der Mostviertler Gemeinde Wallsee in eine Mechanikermeister-Familie hineingeborenen Rudolf Streicher nicht, dass er einstens auf seiner Visitenkarte Titel wie Diplomingenieur, Dr. mont. (Doctor rerum montanarum), Hon. Prof., Senator e.h., Kom.-Rat, Aufsichtsrats-Vorsitzender, Generaldirektor, Minister und um ein Haar auch Bundespräsident hätte anführen können. Es war die Mutter, der das musikalische Talent ihres mittleren Sohnes auffiel und sie meldete ihn schon mit sieben Jahren zum Geigenunterricht an, was eine erste Weichenstellung für seine zukünftige Entwicklung bedeuten sollte und eine kleine Zwiespältigkeit mit sich brachte. Da die Musikalität der Mutter, dort das technische Verständnis des Vaters – im Sohn vereinigten sich beide Gene. Sofort nach der Hauptschule begann er in der VOEST Linz eine Lehre als Werkzeugmacher und technischer Zeichner, studierte neben seiner handwerklichen Ausbildung am Linzer Bruckner Konservatorium Violine, Gesang und Dirigieren. Und schon als 18-Jähriger dirigierte er das VOEST-Jugendorchester. In der Lehrwerkstätte wurde er schon im zweiten Lehrjahr von seinen Lehrlings-Kollegen zum Jugendvertrauensrat gewählt und diese Funktion war sein Einstieg in die Politik. Und so dauerte es auch nicht lange und Rudi Streicher war zum Landesobmann der Gewerkschafts-Jugend aufgerückt.
1957 arbeitete er zunächst als Facharbeiter im Werkzeugbau, nahm in der Folge dankend ein Stipendium der VOEST an, das mit der Verpflichtung verbunden war, nach Abschluss des Studiums mehrere Jahre für das Unternehmen zu arbeiten. Mit der HTL -Matura erreichte er schließlich die Hochschulreife.
Anschließend wollte er eigentlich Welthandel in Wien inskribieren, weil der Verkauf seinen beruflichen Intentionen entsprach. Einer der VOEST-Direktoren legte ihm aber nahe: „Junger Mann, wenn Sie ein guter Verkäufer werden wollen, müssen Sie Technik studieren. Verkaufsgespräche in unserer Branche sind in Zukunft mehr und mehr Fachgespräche.“
„Entscheidung über Welthandel oder Technik habe ich der ÖBB überlassen.“
War er erst wenige Jahre zuvor vor der persönlichen Entscheidung, Berufsmusiker oder Techniker zu werden, gestanden, musste er nunmehr die für ihn wesentlich wichtigere Wahl zwischen Welthandel oder Technik treffen. Rudolf Streicher erinnert sich lachend: „Ich konnte mich einfach nicht und nicht entschließen und habe daher, völlig unprofessionell, diesen wichtigen beruflichen Wegweiser schließlich an die ÖBB delegiert. Das war so: Auf der Fahrt mit dem Bus zum Bahnhof Amstetten habe ich für mich festgelegt, dass ich ‚unwiderruflich‘ in jenen Zug einsteigen werde, der als erster entweder nach Wien oder über Selzthal nach Leoben abfährt. Der Zug nach Leoben ist um 20 Minuten früher abgefahren. Das war’s dann.“
Der junge Niederösterreicher hatte sich damals also für die Fachrichtung Hüttenwesen entschieden, wurde nach kurzer Zeit Vorsitzender des dortigen Vereines Sozialistischer Studenten Österreichs, heiratete 1966 die bildhübsche Lehramtsstudentin Gilde Gande, Tochter einer Leobener Kaufmannsfamilie mit bekanntem Modenhaus und eine im österreichischen Schinationalkader etablierte Schirennläuferin, deren erfolgreich begonnene Karriere allerdings in Cervinia mit zwei eingegipsten Beinen vorzeitig endete.
Streicher wurde Vater – Tochter Dagmar reüssiert nach Jahren beim ORF heute als Filmproduzentin und Drehbuch-Autorin – er studierte, musizierte und spielte im Streichquartett der Hochschule Violine. Er war Mitgründer des Hochschulorchesters und Gründer des Hochschulchores und machte unter anderem von sich reden, weil es ihm über alle politischen Gegensätze hinweg erstmalig gelungen war, sangesfreudige Studenten aller Couleurs zu einem gemeinsamen Chor zu vereinen, mit dem Ziel, eine Schallplattenaufnahme der traditionellen „Bergmanns und Studentenlieder“ zu produzieren.
Streicher erinnert sich an die spannenden Platten-Produktionstage im Gösser-Bräu: „Die unterschiedlichen politischen Einstellungen der Sänger spielten während der Aufnahmetage im Gegensatz zu all dem, was sich rundherum abspielte, keine Rolle. Auf der einen Seite musste ich mit den Berufs-Musikern noch proben und die Gagen aushandeln, was deshalb heikel war, weil wir kaum Geld hatten und einige Musiker daher schon ihre Instrumente wieder einpacken wollten, und auf der anderen Seite warteten die Sänger in der entstandenen Zwangspause auf die Aufnahme. Es gab Freibier und das hat sich auf die Atmosphäre, aber auch auf die Konzentration bei der Aufnahme entscheidend ausgewirkt. Der Verkauf war für die Hochschülerschaft ein Riesenerfolg, 5.000 Langspielplatten gingen gleich in den ersten Monaten weg.“
1969 verließ Streicher Leoben als Diplomingenieur in Richtung ÖIG, (später ÖIAG) dem damaligen Dach der Verstaatlichten Industrie, die ihm das geeignete Sprungbrett für die weitere Karriere abgab. Bereits 1974 wurde er auf Vorschlag von seinem Chef Dr. Franz Geist in den Vorstand der Vereinigten Metallwerke Ranshofen-Berndorf berufen und nur sechs Jahre später durfte er sich schon Generaldirektor der Ranshofen-Berndorf AG nennen. Seine Erfahrungen verpackte er in eine Dissertation, wofür man ihm 1979 in Leoben die Doktorrolle überreichte. Für einige ein schmerzhafter Ein- schnitt, für die Ranshofener Aluminiumelektrolyse selbst eine entscheidende Überlebensfrage, Streicher begründete dort bei Braunau am Inn seinen Ruf als erfolgreicher Sanierer.
„Mit sechs Prozent Eigenkapital und hohen Verlusten habe ich das Unternehmen übernommen, mit 30 Prozent Eigenkapital und 30 Milliarden Schilling an liquiden Mitteln habe ich es 1986 verlassen.“
Ein Manager mit Fähigkeiten, die auch bei der krisengeschüttelten Steyr-Daimler-Puch-AG gefragt waren, folglich: Rudolf Streicher wurde im Jänner 1986 zum Generaldirektor dieses Unternehmens berufen, nicht jedoch, ohne einen Monat zuvor – aber das ist eine andere Geschichte – für 24 Stunden Generaldirektor der VOEST gewesen zu sein. Inzwischen galt der erst 47-jährige Erfolgsmanager längst als ministrabel und Rudolf Streicher wurde noch im Juni desselben Jahres Minister für Verkehr und Öffentliche Wirtschaft.
Zu heißen Diskussionen führten seine von Michael Sekyra und Oskar Grünwald unterstützten Eingriffe in die ÖIAG-Struktur, z. B. wurden circa 130 Aufsichtsratsposten auf 70 reduziert und von diesen 70 wurden 24 neu besetzt und nach Qualifikation ausgesucht.
Auch ein Streicher-Erfolg: „Flüster-LKWs“, neue Nummerntafeln und Wunschkennzeichen. Aber: „Hundertwasser nannte mich Nazi“
Eng verbunden bleibt sein Name mit dem Transitabkommen, den „Flüster-LKWs“ für die Brennerstrecke, heute alles Selbstverständlichkeiten und der „Kennzeichenänderung“, die schwarzen Nummertaferln hatten ausgedient.
Der „Nummern-Adel“ probte den Aufstand, harmlos aber im Vergleich zu dem, was ein Friedrich Hundertwasser aufbot. Streicher: „Der war gerade aus dem ‚steuerschonenden‘ Neuseeland auf Heimaturlaub gekommen und hatte eine Chance gewittert, seine Popularität mit einem Gegenentwurf zu steigern, hatte leider auch vorübergehend die Kronen Zeitung für seine Kampagne einspannen können.“ Rudolf Streicher, der sich von ‚Friedensreich‘ Hundertwasser auf offener Straße sogar als Nazi beschimpfen lassen musste, konnte sich schließlich mit Hans Dichand über ein Ende der Kampagne einigen, ein Händedruck, die Sache war erledigt. Und als Ersatz für die vielen niederstelligen Blechtaferln gab es nun die Wunschkennzeichen als Entschädigung, aber gegen bare Münze. Rudolf Streicher im O-Ton: „Das brachte bisher Einnahmen von 130 Millionen Euro.“
Bundespräsidentenwahl 1992 und die Rolle des Jörg Haider
„Rudi, du bist der Beste dafür, Rudi, du musst es machen, Rudi, du gewinnst hundertprozentig“, in dieser und ähnlicher Tonlage erging damals 1992 die drängende Einladung von Franz Vranitzky und vielen anderen Parteifreunden an den sich zu Beginn Sträubenden, sich doch als Kandidat für die Bundespräsidentenwahl zur Verfügung zu stellen. Sämtliche Um- fragen sprachen für ihn und Rudolf Streicher führte gegen Thomas Klestil von der ÖVP im ersten Wahlgang überlegen. Dann die Stichwahl – nur noch 43,1 Prozent der Stimmen für den Favoriten. Die von Franz Vranitzky getextete Anti-Haider-Formel „Keine Koalition mit der FPÖ“ hatte die Stimmen des rechten Lagers der ÖVP zugeführt. Rudolf Streicher: „Als mir Jörg Haider unter vier Augen erklärt hat, dass er nicht für mich stimmen würde, konnte ich mir den Wahlausgang natürlich schon aus- rechnen.“
Bundespräsidentenwahl abgehakt, Rückkehr auf den Generaldirektorsessel bei Steyr-Daimler-Puch, alarmierende Umsatzzahlen, bevorstehende Privatisierungen … Der Rest ist Wirtschaftsgeschichte, wie sie (noch) nicht in den Büchern steht.
„CA-Eigentumsvertreter haben SDP-Verkauf hinter meinem Rücken abgeschlossen.“
Rudolf Streicher lässt versonnen den Blick über seine Franz-Grabmayr-Bilder gleiten, macht ihn dann an dem kleinen Bildausschnitt, den die Bäume im Garten auf die Alte Donau freigeben, fest; es ist, als zögen die turbulenten Jahre an ihm im Zeitraffertempo vorbei. Die südkoreanische DAEWOO, die unbedingt Steyr-Daimler-Puch kaufen wollte – Streichers Instinkt und reiche Erfahrung ersparte den Eigentümervertretern und damit der Republik eine Riesenblamage, Verkauf abgesagt, der DAEWOO-Chairmann später im Gefängnis. Nicht beeinflussen konnte er die Abläufe beim Verkauf von Steyr Daimler Puch AG an Magna, weil diese ohne Einbeziehung des Steyr Daimler Puch Managements von der Creditanstalt direkt und allein verhandelt wurden. „Frank Stronach sagte mir später, ich wurde deshalb nicht einbezogen, weil man der Meinung war, ich wäre gegen diesen Deal. Sicher hätte ich einen höheren Verkaufspreis vorgeschlagen.“ Präsident der Austria Wien von 1997 bis 1999, Nachfolger: Frank Stronach. Dann die Jahre 1999 bis 2001 als Vor- stands-Vorsitzender der ÖIAG und sie hätten nicht die Handschrift von Rudolf Streicher getragen, wäre ein Stein auf dem anderen geblieben. Mit Schwarz-Blau kam dann das jähe Ende. „Der Grasser wollte mich mit allen Mitteln weghaben.“ Wenige Wochen nach seinem Antritt als Minister meinte er, Streicher und auch Johannes Ditz sollten durch Leute seines Vertrauens ausgetauscht werden, was auch geschah.
Diese vorzeitige Vertragsauflösung war schließlich nicht ein großer Nachteil für Rudolf Streicher, als Fachmann und Branchenkenner hatte er bestens vorgesorgt, auch den Gewerbeschein für Unternehmens-beratung erworben, Gesellschaften gegründet, war auf Beteiligungen eingegangen, hatte eine Stiftung ins Leben gerufen, sein Herz aber an die Musik gehängt. Dafür sprechen nicht nur die rund 250 Aufführungen, davon 90 in aller Welt, sowie Rundfunk-, Fernseh- und CD-Produktionen. Für die Steiermark besonders erwähnenswert sind die 20 Benefizkonzerte im Advent für die Basilika Mariazell mit den NÖ Tonkünstlern. Sein Repertoire umfasst mehr als 100 Werke der Klassik und Romantik sowie eine Vielzahl von Werken der Strauß-Dynastie. Seinem Dirigat folgten prominente Orchester wie z. B. die Wiener Symphoniker, das RSO-Orchester, die Niederösterreichischen Tonkünstler, das Mozarteum Orchester Salzburg, das Bruckner Orchester, das Johann Strauß Orchester, das Ambassade Orchester, mit dem er in der WM-Halle St. Anton das traditionelle Neujahrskonzert dirigiert. Einladungen als Gastdirigent führten ihn wiederholt nach Tschechien, Ungarn, Italien, Russland, Südkorea, China, Südamerika und Japan, wo er mit den dortigen Berufsorchestern musizierte. Die Frage nach seinen Orden und Auszeichnungen stellen wir besser nicht, denn eine vollständige Aufzählung würde den redaktionellen Raum sprengen und er ist außerdem der Typ, der nur eine einzige Auszeichnung wirklich schätzt – wenn er seinen Taktstock senkt, sich vor dem Publikum verbeugt und großen Applaus ihn umfängt.