Überraschend viele, die 80 Jahre und älter sind, haben noch einiges drauf. Eine hochkarätige Studie widerlegt das Stereotyp der Alten auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis.
M ehr als 80.000 Frauen und Männer in der Steiermark sind 80 Jahre und älter und sie sind keine zittrigen Greise, sondern überwiegend rüstig, wie man früher sagte. Heute sagt man, sie sind aktiv und selbstbestimmt. Was nach gefährlicher Schönfärberei klingt, ist aus einer umfangreichen wissenschaftlichen Studie herauszulesen. Auf mehr als 200 Seiten begegnen hochkarätige Experten aus sechs medizinischen Fachgebieten einer Generation der „Hochaltrigen“, die nicht den gängigen Klischees entspricht, welche vor allem die noch nicht alten von diesen haben. Dazu haben die Verfasser österreichweit mehr als 700 Über-80-Jährige über einen Zeitraum von fast zehn Jahren befragt und begleitet. Natürlich ist das Älterwerden kein Honiglecken, aber Mediziner Georg Ruppe, Projektleiter der Studie, sagt, den Autoren ist es bei der Studie darum gegangen, die Situation der Menschen dieser Gruppe darzustellen, wie sie ist, und gängige Verallgemeinerungen zu hinterfragen.
Wer sich nicht vom sperrigen Titel der Arbeit („Österreichische interdisziplinäre Hochaltrigenstudie“) abschrecken lässt, gewinnt einen starken Eindruck von den Mitbürgern jenseits des 80. Lebensjahres: Das ist eine robuste Generation.
Hohe Zufriedenheit
Aus anderen Gruppen der Gesellschaft sind zu allen Zeiten allerhand Klagen zu hören, doch die überwältigende Mehrheit der Österreicher über 80 Jahre – mehr als 80 Prozent – sind mit ihren Lebensumständen zufrieden. Sie haben die schwere Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, ihren eigenen Aufstieg und den Wiederaufbau des Landes gestemmt und vor Klimakatastrophe, Eurokrise, Corona oder Ukraine-Krieg schon etliche Krisen klaglos gemeistert. So jemand lässt sich nicht so leicht unterkriegen.
Inzwischen spürt aber fast jede und jeder von ihnen, dass manches im Leben nicht mehr geht, weil etwa die Finger die Schuhbänder nicht mehr bändigen können oder weil das Fensterputzen nicht mehr gelingt. Aber diese Einschränkungen scheinen kein Grund zum Klagen zu sein, lässt sich aus der Studie schließen. Das ist eben so, sagen Sie sich wohl. Interessant ist auch der Umkehrschluss: Mehr als ein Drittel von uns, die älter als 80 sind, nimmt im Alltag gegenüber früher überhaupt keine Einschränkungen wahr.
Der Bericht zeigt an anderer Stelle, dass fast jede und jeder zweite dieser Gruppe in irgendeiner Form bei alltäglichen Verrichtungen Hilfe annimmt. Aber nur jeder Vierte ist so stark auf fremde Hilfe angewiesen, dass nur der Weg in ein Senioren- oder Pflegeheim bleibt. Bemerkenswert ist wieder der Umkehrschluss: Ein Viertel der Generation 80plus ist extrem selbstbestimmt und auf gar keine Hilfe angewiesen.
Benachteiligte Frauen
Obwohl sich die ältesten unter uns insgesamt als beruhigend robust präsentieren, zeigt die Untersuchung die große Schwachstelle nicht nur dieser Generation: Es sind die Frauen. Sie leben zwar deutlich länger als die Männer, doch in der Statistik und im Alltag haben sie im hohen Alter deutlich weniger Lebensqualität. Ihr Gesundheitszustand ist insgesamt schlechter, sie leiden häufiger an Harninkontinenz oder Depressionen, sie sind öfter einsam und sie haben ein höheres Demenzrisiko als Männer. Die wesentliche Ursache dafür sieht der Mediziner Georg Ruppe nicht in den unmittelbaren Altersumständen, sondern ist teils schon Jahrzehnte früher angelegt. Frauen dieser Generation haben in der Regel eine schlechtere Bildung bekommen als Männer und haben folglich über Jahrzehnte niedrigere Einkommen als diese. Die Folgen dieser langjährigen Benachteiligung kann auch der großzügigste Sozialstaat nicht ausgleichen.
Wie robust diese Generation insgesamt ist, zeigt sich etwa beim Thema Einsamkeit. Es sind nach eigenen Angaben nur fünf Prozent, die sich laut Studie häufig oder immer allein fühlen, 18 Prozent sind gelegentlich einsam. Im Umkehr bedeutet das, dass drei Viertel der Hochbetagten nie Einsamkeit empfindet. Die Häufigkeit von Depressionen ist mit 15 Prozent ebenfalls nicht alarmierend. Größere Sorge bereitet allen Beteiligten hingegen das Thema Demenz. Die Studie zeigt, dass mehr als 80 Prozent der untersuchten Hochaltrigen kognitive Defizite haben und dass bei der Hälfte ein Verdacht auf Demenz besteht.
Eine gute Chance
Wer das 80. Lebensjahr geistig und körperlich relativ gesund erreicht, hat die statistische Chance von etwa 60 Prozent, auch noch sechs weitere recht gute Jahre zu erleben. Solche Personen sollten sich aber trotz dieser positiven Umstände bewusst sein, dass sie in einer insgesamt prekären Lage sind. Jederzeit kann etwas passieren, was die Lebensumstände total durcheinanderwirft, ein Sturz, eine Erkrankung oder sozialer Stress. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sogar sehr hoch und sie steigt mit jedem Lebensjahr. Die Studie zeigt, wie wichtig gerade bei sehr alten Menschen das Zusammenspiel von körperlicher und geistiger Verfassung ist. Lassen die körperlichen Fähigkeiten nach, steigen in der Regel auch die mentalen Defizite und umgekehrt. Alle Untersuchungen zeigen, dass sich diese Verluste im hohen Alter wechselseitig verstärken.
Viele Leiden gleichzeitig
Die große Gefahr der Über-80-Jährigen ist das Zusammentreffen von mehreren Krankheiten, die sogenannte Multimorbidität. Projektleiter Ruppe zitiert aus der Studie, dass drei Viertel aller Personen, die ein so hohes Alter erreichen, fast nie nur an einer gesundheitlichen Störung leiden. Deshalb nehmen viele dieser Hochaltrigen (zu) viele unterschiedliche Medikamente ein, was als weiteres Problem gilt. Mehr als der Hälfte der Bewohner von Pflegeheimen bekommt zehn und mehr Arzneien pro Tag. Die Untersuchung mahnt Mediziner und Betreuer, sich verstärkt mit Wirkung, Wechselwirkung und Verträglichkeit von Medikamenten zu befassen.
Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass viele der robusten Generation der Über-80-Jährigen sogar die Chance haben, ihre günstigen Lebensumstände noch erstaunlich lange zu erhalten. Gerade körperliche oder funktionale Verluste sind nicht gänzlich unumkehrbar, betonen die Experten. Georg Ruppe weist auf den Teil der Arbeit hin, der die Möglichkeiten erwähnt, dass Hochaltrige ihren gesundheitlichen Status durch Prävention oder Rehabilitation ganz erheblich stabilisieren und verbessern können. Damit meint er Maßnahmen, um die Fähigkeiten betagter Menschen zur Erhaltung der Selbsthilfe und Autonomie gezielt zu fördern. Auf diese Weise können viele weiter unter Beweis stellen, dass sie eine robuste Generation sind.