Verzeihung, wer sind Sie?

Interview mit Dr. Christina Wehringer zum Thema Demenz

Dr.in Christina Wehringer
Leiterin der Medizinischen Fachabteilung IV/8

Wie entsteht Demenz, gibt es konkrete Ursachen für diese Erkrankung?
Demenz ist der (langsame) Verlust des Denkens, der Emotionen und sozialen Fähigkeiten. Vor allem betroffen sind das Kurzzeitgedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache, der Bewegungsablauf (Motorik) und die Persönlichkeit.

Im Gehirn stellt man folgende Veränderungen fest:

  • Im Gehirn werden Informationen durch Neurotransmitter (Überträgersubstanzen) weitergeleitet. Acetylcholin, eine dieser Substanzen, spielt eine Schlüsselrolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen. Bei Demenz (zB Alzheimer Desease) vermindert sich der Acetylcholinanteil. Die Verminderung korreliert mit dem Niveau der kognitiven Fähigkeiten.
  • Morphologisch kommt es zu einer Atrophie der Gehirnmasse. Die Hirnwindungen werden dünner und die Zwischenräume größer. In der Hirnsubstanz lagern Degenerationssubstanzen wie zB neuritische Plaques, Tauproteine und Amyloid außerhalb der Nervenzellen ab. Diese Substanzen lassen sich mit hochauflösenden Untersuchungsmethoden (SPECT – Single-Photon-Emissions-Computertomografie) nachweisen und werden in der klinischen Forschung angewendet.

Bis auf einen vernachlässigbaren geringen Anteil genetisch bedingter Demenzformen ist die Ursache nicht geklärt. Noch ist unbekannt, warum sich das Neurotransmitterspektrum verändert und degenerierte Nervenzellen im Gehirn extrazellulär abgelagert und nicht (wie üblich) abtransportiert werden. Derzeit können lediglich Folgen der geänderten Gehirnfunktionen – Symptome der Patienten und (hirn)organische Veränderungen – festgestellt werden.

Woran erkennt man den Beginn einer Demenz und bei welchen Anzeichen sollte man einen Arzt aufsuchen? Gibt es ein einheitliches Krankheitsbild, oder gibt es unterschiedliche Symptome?
Die Anzeichen sind Störungen der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses und der räumlichen Orientierung, die ganz langsam fortschreiten. Zunehmend werden Namen, wichtige Ereignisse, Termine, Situationen vergessen. Die Orientierung in nicht vertrauter Umgebung nimmt ab. Diese Einschränkungen erkennen zunächst Patienten selbst, wollen sie jedoch nicht wahrhaben, ziehen sich vom Freundeskreis und später auch von Angehörigen zurück. Besinnen sich auf „Früheres“ – biographische Rückorientierung – Gewohntes „Alt-Bekanntes“ (Erinnern an lang zurück Liegendes). Auf diese Weise versuchen die Betroffenen die „Fassade“ zu erhalten. „Gedächtnisinseln“ speziellen Wissens bleiben lange erhalten. Die Sprache verflacht, wird einfacher.

Wenn diese Einschränkungen erkannt werden, ist es dringend zu empfehlen, ärztlichen Rat einzuholen. Ähnliche Symptome treten auch bei anderen, gut behandelbaren Erkrankungen auf. Erst im fortgeschrittenen Stadium kommt es zur Beeinträchtigung der Ausführung willkürlicher, zielgerichteter und geordneter Bewegungen bei intakter motorischer Funktion (Apraxie). Sukzessive sinken das Wahrnehmungsvermögen und die Zuordnung von Sinneseindrücken. Einbuße von Kompetenz führt auch zu Veränderungen der Beziehungen im familiären und sozialen Umfeld. Das Verhalten der Patienten ändert sich gegenüber den Mitmenschen.

Diagnose Demenz: Wo bekommen Betroffene Hilfe und welche Angebote zur Bewältigung ihres Alltags gibt es?
Ist die Diagnose Demenz gestellt – ein ganz wichtiger Schritt, da vor allem am Anfang andere Erkrankungen (zB Schilddrüsenerkrankung, Herzerkrankungen, Depression) ähnliche Symptome haben und sehr gut behandelt werden können – gibt es eine Vielzahl an Unterstützungsangeboten. Ganz im Vordergrund steht ein möglichst vielseitiges Leben weiterzuführen, allenfalls mit Unterstützung von Freunden oder Angehörigen. Freudvolles Tun soll ganz im Vordergrund stehen. Was das ist, hängt von bisherigen Tätigkeiten und Hobbys ab.

Unterstützungsangebote sind:

  • Pflegegeld – damit kann man Hilfestellungen durch die sozialen Dienste „einkaufen“. Beispielsweise eine Heimhilfe, die bei der Haushaltführung und den täglichen Verrichtungen hilft oder Essen auf Rädern, wenn das tägliche Kochen zur Herausforderung wird.
  • Förderung einer 24-Stunden-Betreuung – dabei wird über eine entsprechende Organisation eine Betreuerin engagiert, die bei den Betroffenen wohnt und diese betreut.
  • Übersiedlung in ein Alten- oder Pflegeheim. Damit ist für einen geregelten Alltagsablauf gesorgt und Betroffene müssen sich nicht mehr um den Haushalt kümmern und können sich ihren Hobbys widmen. Auch der Kontakt mit Mitbewohnern ermöglicht ein gemeinsames Tun, Gesprächeführen uäm. und erleichtert ein Leben mit Einschränkungen. Viele Alten- Pflegeheime bieten besonders anregende Beschäftigungen für Demenzpatienten an. In machen Alten- und Pflegeheimen kann man diese Angebote auch als „Besucher“ nutzen und sonst noch zu Hause wohnen.

Was bedeutet diese Erkrankung für Angehörige, wie sollen sie mit dem/der Erkrankten umgehen und gibt es auch Unterstützungsangebote für sie?

  • Pflegende Angehörige können ohne Beitragszahlung Pensionsversicherungszeiten erwerben:-  Weiterversicherung für pflegende Angehörige, wenn diese wegen der Pflege eines nahen Angehörigen ihre Erwerbstätigkeit aufgeben müssen.-  Selbstversicherung pflegender Angehöriger, wenn diese Angehörige pflegen und vorher nicht oder nur Teilzeit gearbeitet haben.
  • Beitragsfreie Mitversicherung pflegender Angehöriger zur Krankenversicherung.
  • Ersatzpflege, wenn ein pflegender Angehöriger verhindert ist – zB Urlaub, berufliche Weiterbildung, eigene Erkrankung.
  • Angebote für Young Carers: Da in Österreich rund 40.000 Kinder und Jugendliche Angehörige pflegen, gibt es ein vielfältiges, altersangepasstes Unterstützungsangebot.
  • Kostenfreies Angehörigengespräch mit einer Psychologin.

Wie erleben an Demenz Erkrankte ihren Alltag? Und inwieweit ist ein selbstbestimmtes Leben möglich?
Das eingeschränkte Orientierungsvermögen, die abnehmende Merkfähigkeit und der Verlust an Flexibilität erschweren Menschen mit Demenz die Bewältigung neuer Situationen. Daher sollte der Tagesablauf möglichst gleichmäßig ablaufen.

Methoden zum Erinnern – Block, Kalender an einem bestimmten Ort – erleichtern diesen Menschen ihr Defizit möglichst selbstständig handzuhaben.
Bei außergewöhnlichen Vorhaben (zB Arztbesuch, Krankenhausaufenthalt, Urlaub) sollte immer eine Vertrauensperson als Begleitung eingeplant werden.

Ein offener Umgang mit der Erkrankung Angehörigen und Freunden gegenüber erleichtert das Zusammenleben. Der Erkrankte muss sich nicht „zusammennehmen“ und die Freunde verstehen das geänder Verhalten besser und können sich darauf einstellen.
Einen „Notfallplan“ mit dem erkrankten Menschen erarbeiten und immer wieder üben.

Kann man dieser Erkrankung vorbeugen?
Vorbeugend wirken gute Bildung und regelmäßige geistige Aktivität (Brettspiele, Musizieren, Lesen, Fremdsprache pflegen), regelmäßige körperliche Aktivität 2-3 Mal pro Woche (Spazierengehen, Tanzen, Radfahren, Schwimmen), soziale Interaktion (Freundschaften pflegen), gesunde Diät mit viel Gemüse, Obst und Fisch.
Nicht rauchen und Alkohol nur in geringen Mengen konsumieren.
Darauf achten, dass der Blutdruck gut eingestellt ist und ein Diabetes mellitus ausgeschlossen oder gut behandelt ist.
Auf den geringeren Kalorienbedarf im Alter achten und das Normalgewicht einhalten. Übergewicht ist ein Risikofaktor, früher an Demenz zu erkranken.

Demenz gilt als unheilbar. Welche nicht-medikamentösen Therapien können helfen?
Ergotherapeutische und physiotherapeutische Behandlungen helfen Einschränkungen im Bewegungsapparat zu mindern und so die Selbstständigkeit länger zu wahren.

Alltagsaktivitäten so weit wie möglich – allenfalls langsamer und umständlicher – beibehalten. Geduldiges Unterstützen hilft bei der eigenständigen Bewältigung.
Logopädie unterstützt trotz der Sprach- und Sprecheinschränkung die Ausdrucksmöglichkeit zu verbessern oder zu erhalten.
Musiktherapie hilft vor allem auch die angestrengte, anstrengende Spannung zu mildern und trotz der Defizite Ausdrucksformen zu finden.
Psychotherapie, in welcher Form, auch immer unterstützt die Patienten (und die Angehörigen) die Erkrankung anzunehmen und trotzdem ein gelingendes Leben zu führen.

Was passiert aktuell in der Demenz-Forschung?
Aktuell strebt die Wissenschaft an, mehr über die Mechanismen in und außerhalb der Zellen im Gehirn zu erfahren. Damit wird der Grundstein gelegt, in pathogene Mechanismen einzugreifen, um zu verhindern, dass die Leitungsfunktionen zwischen den Zellen verloren gehen und degenerative Ablagerungsprodukte nicht im Gehirn entsorgt, sondern zerlegt und abtransportiert werden. Im Moment wird intensiv an einer „Impfung“ gegen Alzheimer Disease geforscht.

Dr. Christina Wehringer
Leiterin der Medizinischen Fachabteilung IV/8
Stubenring 1, 1010 Wien
+43 (1) 711 00 86 6123 | M: + 43 699 100 59 694
christina.wehringer@sozialministerium.at
www.sozialministerium.at

Fotos: Dr. Christina Wehringer, Shutterstock

 

Beitrag veröffentlicht am 7. März 2018.