Wir haben mit Frau Mag. Marianne Raiger ein Gespräch zum Thema Pflege geführt. Sie ist Direktorin der Akademie für Gesundheitsberufe und Landesvorsitzende des ÖGKV Landesverband Steiermark.
Frau Mag. Raiger, gibt es den viel beschworenen Pflegenotstand wirklich?
Mag. Raiger: Ja, es gibt ihn. Er ist nur nicht so eine große Überraschung, wie viele behaupten. Seit mehr als zehn Jahren sehen wir anhand der Bevölkerungspyramide den demografischen Wandel der österreichischen Bevölkerung. Der Mehrbedarf an Pflegekräften war vorhersehbar. Die Pflegeberufe sind davon in mehrerlei Hinsicht betroffen. Einerseits kommt es durch die Zunahme der älteren Bevölkerung auch zu einer Zunahme der chronischen Erkrankungen und somit zu einem Mehrbedarf an Pflegekräften. Andererseits geht auch bei den Pflegekräften die sogenannte Babyboomer-Generation in Pension. Berechnungen zufolge werden für die nächsten zehn Jahre rund 76.000 Pflegepersonen in Österreich gebraucht.
Die ersten Anzeichen des Pflegenotstandes sind bereits in den Pflegeheimen bestimmter Regionen in der Steiermark bemerkbar.
Für die neue Bundesregierung hat der Bereich Pflege höchste Priorität. Glauben Sie ihr das?
Mag. Raiger: Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung weiß, dass die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung ein wichtiger Punkt in ihrem Regierungsprogramm sein muss. Vorerst geht es darum, wie die anfallenden Pflegekosten finanziert werden können.
Regress ist abgeschafft: Welche Auswirkungen auf das Personal (besonders DGKP) hat das?
Mag. Raiger: Durch die Abschaffung des Regresses ist die Nachfrage nach einem Pflegeheimbett selbstverständlich gestiegen. Die Pflegeheimbetreiber haben auf die Nachfrage reagiert, neue Pflegeheime gebaut oder bestehende Pflegeheime ausgebaut, um mehr Betten anbieten zu können. Für das Betreiben der Pflegeheimbetten ist eine bestimmte Personalausstattung per Gesetz erforderlich. Durch den Pflegepersonalmangel können aber rund 400 Pflegebetten nicht betrieben werden, da das erforderliche Personal nicht vorhanden ist.
Aus Sicht der DGKP: Haben wir die richtigen Heime/Einrichtungen?
Mag. Raiger: Ich denke die Frage müsste eher lauten, ob wir die richtigen Versorgungsmöglichkeiten für unsere ältere Bevölkerung haben. Wir wissen, dass rund ¾ der Bevölkerung bei Hilfsbedürftigkeit lieber zu Hause versorgt werden möchte. Da stellt sich für mich schon die Frage, was ist mit den anderen Versorgungsformen? Ich denke hier an die Mobilen Dienste, betreutes Wohnen oder sonstige alternative Möglichkeiten. Um eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung gewährleisten zu können, müssen verschiedene Pflege- und Betreuungsmodelle von stationär, teilstationär bis ambulant für die Menschen zur Verfügung stehen. Hier haben wir noch einen Nachholbedarf.
Warum haben die Pflegeberufe so ein schlechtes gesellschaftliches Image?
Mag. Raiger: Die Berufsgruppe an sich hat ein sehr gutes Image. Sie liegt im Ranking nach den Feuerwehrleuten an zweiter Stelle bei den vertrauenswürdigen Berufsgruppen. Das Problem liegt darin, dass der Beruf an sich als sehr belastend und familienunfreundlich wahrgenommen wird. Viele professionell Pflegende können durch die veränderten Arbeitsbedingungen die Pflege am Menschen nicht mehr in dem Ausmaß ausführen, wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt haben. Die Zunahme der Patientenfrequenz bringt einen immer größeren administrativen Aufwand mit sich. Durch den Ärztemangel werden immer mehr standardisierte medizinische Tätigkeiten an die Pflege übertragen. Die Zeit für den persönlichen Patientenkontakt wird immer weniger. Oftmals müssen Pflegende in ihrer Freizeit zum Dienst einspringen, weil aufgrund des Personalmangels ohnehin schon mit einer Mindestbesetzung gearbeitet wird. Notwendige Erholungszeiten können somit nicht konsumiert werden. Viele professionell Pflegende haben dadurch das Gefühl der Überforderung und der Überlastung.
Was außer bessere Bezahlung kann/muss das Image der Pflegeberufe attraktiver machen?
Mag. Raiger: Die Leistungen der Pflege müssen sichtbarer gemacht werden. Wir brauchen Personalberechnungs-modelle, die die veränderten Arbeitsbedingungen besser abbilden. Die Zeit für eine ressourcenstärkende Pflege, für Anleitung und Beratungen muss mehr Berücksichtigung in den Berechnungsmodellen finden. Im Fokus der professionellen Pflege muss vermehrt der Mensch stehen und nicht die Administration und Dokumentation rund um ihn herum.
Mobile Pflege: Wo ist sie heute, wo muss sie hin?
Mag. Raiger: Die Mobile Pflege ist ein sehr wichtiger Teil in der zukünftigen Gesundheitsversorgung. Wir sprechen immer von dem Modell „ambulant vor stationär“. Um dem Wunsch der Menschen, solange wie möglich zu Hause bleiben zu können, gerecht zu werden, müssen wir uns überlegen, welche Möglichkeiten der professionellen Unterstützung von chronisch Kranken und pflegebedürftigen alten Menschen wir neben dem Pflegeheim noch haben.
Durch die Abschaffung des Regresses ist für viele Menschen der Weg in das Pflegeheim finanziell günstiger als die bedarfsorientierte Versorgung durch die mobilen Dienste zu Hause. Hier muss sich die Bundesregierung zukünftig etwas überlegen. Solange die Versorgung zu Hause für den Klienten teurer ist als die Unterbringung in einem Pflegeheim, wird der Wunsch „ambulant vor stationär“ nicht zu erfüllen sein.
Pflegeroboter – ist das die Zukunft?
Mag. Raiger: Wenn man sich den Roboter nicht als Pflegeersatz, sondern als Pflegeunterstützung vorstellt, ist dies sicherlich die Zukunft. Es gibt viele positive Erfahrungsberichte vom unterstützenden Einsatz von Pflegerobotern, zum Beispiel bei Menschen mit Demenz oder Kindern mit Autismus. Natürlich kann kein Roboter die menschliche Zuwendung oder gar das Pflegefachpersonal ersetzten, allerdings können solche Systeme die Pflege immens unterstützen.
Frau Mag. Raiger herzlichen Dank für das Gespräch!