Telemedizin und digitale Gesundheitsdienste sind die Megatrends auch in der Altersmedizin. Es stellt sich längst nur noch die Frage: Was ist mit dem Handy nicht möglich?
Die englischen Begriffe und Abkürzungen klingen fremd und unverständlich. Bei Digital Health, AAL (Active & Assisted Living) oder Life Science handelt es sich um keine Science-Fiction-Technologien, sondern um die neue Normalität. Daran lässt Johann Harer, Geschäftsführer des steirischen Humantechnologie-Clusters HTS, keinen Zweifel und eine Tagung in Graz lieferte verblüffende Beispiele, wie sehr die digitale Revolution im Gesundheitswesen auch in der Altersmedizin bereits angekommen ist.
Das kann die moderne Telemedizin:
• Herzpatienten kommunizieren Blutdruck, Puls, Körpergewicht und Symptome über eine Handy-App mit einem Netzwerk aus Ärzten und Betreuern.
• Grazer Pflegeheime testen digitale Hilfssysteme für die Problembereiche Demenz, Sturzgefahr und unbeaufsichtigtes Verlassen von Räumen.
• Tele-Wundmanagement geschieht mittels Smartphone.
• Diabetiker schwören auf die Blutzucker-App.
• Sensoren im Unterleibchen leisten bei Atembeschwerden wertvolle Hilfe.
• 90-Jährige greifen zum Tablet und nehmen zuhause oder im Heim an interaktiven Trainingsrunden und an Therapieeinheiten teil.
Alle diese Anwendungen von digitalen Gesundheitsdiensten haben zwei Faktoren gemeinsam. Erstens sind die Betroffenen nicht mehr passive Patienten, sondern aktive Konsumenten von Leistungen und Prozessen, die ihre Gesundheit betreffen. Zweitens hat der Arzt mehr Zeit für den Klienten, weil ihn die digitale Medizin zeitlich entlastet. Der bekannte Internist und Gesundheitsexperte Univ. Prof. Siegfried Meryn bringt es auf den Punkt. Im Mittelpunkt steht nicht mehr das Reagieren auf Krankheiten, sondern die aktive Beschäftigung mit der Gesundheit durch Partizipation und Vorsorge. Es ist fast eine Art Vorleistung zum digitalen Alltag in der Medizin, dass die altbekannte Krankenschwester verbal bereits vor Jahren zur Gesundheits- und Krankenschwester aufgewertet wurde.
Der neue Megatrend im Gesundheitswesen wird durch die Corona-Pandemie des Jahres 2020 noch beschleunigt, so Meryn. Der Ort, wo Medizin stattfindet, ist auch wegen der Ansteckungsgefahr in Zukunft nicht die Arztpraxis, die Ambulanz oder das Krankenhaus, sondern das Zuhause. Dort findet die Diagnose statt, weil die Sensoren und Apps die erforderlichen Daten liefern, welche Mediziner und Pflegeprofis zu Handlungsanleitungen transformieren. Das ist längst Teil der Digitalstrategie der steirischen Spitalsfirma KAGES, klärt Werner Leodolter auf, CIO, Betriebswirt und Chef der Sparte Telegesundheit des Unternehmens. Sie baut stark auf die aktive Partizipation des Patienten. Und das ganze System „wird durch die Digitalisierung gnadenlos transparent“, so der Universitätsprofessor. Denn eines ist für Leodolter klar: „Schlechte Prozesse sind auch digitalisiert schlechte Prozesse.“
Wenn die Rolle des Patienten sich zu der des Konsumenten und Prozessbeteiligten entwickelt, rückt ein neues Instrument in den Mittelpunkt des medizinischen Handelns. Gleichberechtigt an die Seite von Skalpell, Spritze oder Medikament positioniert sich das Smartphone des gesundheitsbewussten Bürgers. Möglich macht das die Technologie, die in Kürze um 5G und Künstliche Intelligenz (AI = artificial intelligence) aufgewertet wird. Meryn macht das mit provokanten Worten deutlich. Beim Vormarsch von Digital Health stelle sich nur noch die Frage: „Was geht mit dem Handy eigentlich nicht?“
Längst geht der Zug des Fortschritts in die Richtung, dass das Smartphone nicht nur Daten wie Blutdruck, Puls oder Blutzuckerwerte an die behandelnden Mediziner übermittelt. Es wird unter der Aufsicht von Ärzten und Pflegeprofis zum Hilfinstrument der Diagnose und Behandlung. Der Chip im Unterhemd zeichnet nicht nur die Atmung auf, sondern analysiert auch die Luftqualität und gibt dem Betroffenen eine Anleitung, sein Verhalten zu ändern. Dafür ist kein Lungenfacharzt und kein Therapeut mehr erforderlich.
Die Chips und Sensoren am und im Körper, welche so segensreich wirken, werden nicht mehr in einer OP implantiert und schränken die Beweglichkeit des Menschen nicht ein. Denn die dritte Generation dieser Mikrochips sind möglicherweise Tattoos. Mit Dignisens ist ein Grazer Start-up dabei, eine Lösung dafür zu finden, mit Inkontinenz umzugehen. Ein Sensor – hygienisch unbedenklich und wiederverwendbar – informiert Pflegepersonen im Heim oder Angehörige zu Hause über die entsprechende Befindlichkeit der pflegebedürftigen Person. Kombiniert mit einem Bewegungsmelder taugt der Sensor auch zur Sturzprävention und dazu, den Drang geistig verwirrter Personen zu erkennen, wenn sie unvermutet ihr räumliches Umfeld verlassen wollen.
Grundlage der neuen Möglichkeiten von Digital Health sind die Daten, welche von Medizinern in den Krankengeschichten und durch moderne Methoden mittels Sensoren und Chips gesammelt und bereitgestellt werden. Die Experten sind sich der Problematik des „gläsernen Patienten“ durchaus bewusst. Nicht nur sie beschäftigt die Vision, dass Google, Apple und Facebook auch diesen höchst sensiblen Datenbereich beherrschen könnten.
Denn die Großkonzerne haben den Gesundheitsbereich längst als Markt der Zukunft entdeckt. Google hat gemeinsam mit renommierten US-Universitäten begonnen, 10.000 Amerikaner gewissermaßen zu vermessen und wird aus diesen Daten so etwas wie ein „Google Maps“ der Gesundheit entwickeln. Amazon bietet seinen Angestellten in den USA in einem Pilotprojekt ein virtuelles Gesundheitsservice an. Wenn die Methoden der Digital Health nicht ausreichen sollten, verspricht Amazon dem Mitarbeiter, dass binnen 15 Minuten ein Arzt kommt und dass in längstens zwei Stunden jedes Medikament geliefert wird.
Es sind nicht nur Freiwillige und junge Leute, die ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen. Gesundheitsexperte Meryn erinnert daran, wie viele Menschen nach dem Arztbesuch schon heute bereitwillig mit Angehörigen und Freunden über das Erlebte reden und versuchen, mittels „Dr. Google“ schlauer zu werden. Das ist bereits eine Art von freiwilligem Datenaustausch. Diese Bereitschaft nimmt in allen Generationen sehr stark zu. Unter Krebspatienten gibt es laut Meryn überhaupt niemanden mehr, der ein Problem damit hat, dass persönliche Daten im Gesundheitssystem genutzt werden.
Eine Beruhigungspille verabreicht in dieser Hinsicht Digitalprofi Leodolter. Wer in das Projekt HerzMobil der steirischen Spitalsfirma KAGES eingebunden ist und seine Kreislaufdaten per App verschickt, kann sicher sein, dass die App und die entsprechende Plattform sicher ist und dass die Daten nicht in die Hände von Unbefugten kommen. Leodolter spricht von einer „Plattform des Vertrauens“. Meryn ergänzt mit dem erneuten Hinweis auf die eigentliche Stärke von Digital Health. Im Endeffekt werden die neuen Möglichkeiten bewirken, dass der Arzt mehr Zeit für den Menschen hat. Egal, ob er als Patient oder als Konsument zu ihm kommt.