So behalte ich den Führerschein

Abenteuer Alter über das Dilemma der Senioren, die aufs Auto angewiesen sind. Das Unfallrisiko dieser Generation steigt, aber ohne Auto sinkt ihre Lebensqualität dramatisch.

Z weimal sind fast 80-Jährige im Frühjahr mit ihren Autos in den Auslagenscheiben von Grazer Geschäften gelandet. Es gab gottlob nur Sachschaden, aber die beiden Senioren erleben seither einen der Albträume ihrer Generation: ein erzwungenes Leben ohne Autofahren. Oskar Nusser (Name geändert), ein 86-Jähriger aus Graz-Umgebung, mag sich so ein Leben nicht einmal vorstellen: „Dann kann ich gleich auf den Friedhof übersiedeln“, sagt er grimmig zu Abenteuer Alter. Denn Autofahren ist für fast alle Senioren nicht Freizeitvergnügen, sondern schlichte Lebensnotwendigkeit. Nicht nur auf dem Land ist ein aktives Leben untrennbar mit selbstbestimmter Mobilität verbunden, die das Auto bietet. Der Supermarkt, in dem Herr Nusser einkauft, ist nicht im Ortszentrum, sein Arzt hat seine Ordination an die Peripherie verlegt, die Apotheke setzt auf einen Standort mit Parkplätzen, ein Besuch bei Kindern und Enkeln ist nur mit dem Auto möglich und wegen des Kaffeehaussterbens kann er nicht mehr zu Fuß auf ein Plauscherl gehen. 

Studien bestätigen, dass ohne Auto viel mehr als die Mobilität verloren geht. Es sinkt die ganze Lebensqualität vieler Senioren auf ein Minimum. Herr Nusser steht für viele, die das Auto seit Jahrzehnten als wesentlichen Teil der Freiheit und Unabhängigkeit erleben und für die das Leben ohne Fahrzeug fast nicht mehr lebenswert ist. 

Die beiden Senioren, die sich mit dem Auto in den Schaufensterscheiben wiedergefunden haben, sehen das wohl ähnlich. Zum Glück ist ihnen außer dem (erheblichen) Sachschaden und dem Schreck nichts passiert. Aber die Vorfälle werfen die Fragen auf, wie sicher Senioren einerseits im Straßenverkehr sind und wie sehr sie anderseits aufs Auto angewiesen sind. Abenteuer Alter versucht den Fokus darauf zu legen, wie man im höheren Lebensalter den Führerschein möglichst lange behalten kann. 

Für viele ist es geradezu ein Albtraum, den Schein zu verlieren. Die Polizei kann ihn kassieren und Lenker am Weiterfahren hindern, wenn die Beamten das fundierte Gefühl haben, das ist im Sinne der Verkehrssicherheit geboten. Dann ist das Papier vorübergehend weg, so Heimo Kohlbacher von der Landespolizeidirektion Steiermark. So eine Situation hat eine 90-jährige ehemalige Unternehmerin erlebt, die 70 Jahre lang mit ihrem Cabrio unfallfrei gefahren ist. Sie hat den Beamten „den Führerschein gleich hingeschmissen“, erzählt sie Abenteuer Alter. Bei begründetem Verdacht der Polizei kann die Bezirkshauptmannschaft eine Untersuchung durch den Amtsarzt anordnen. Der stellt fest, ob der betreffende Fahrzeuglenker gesundheitlich oder geistig in der Lage ist, weiter Auto zu fahren. Das geschieht in der Regel in einer Beobachtungsfahrt und dann entscheidet der Mediziner, ob der Führerschein für immer weg ist oder doch nicht. 

Hier kommt der Fahrschulbesitzer Karl-Heinz Stummer ins Spiel, dessen Unternehmen Powerdrive in solchen Fällen Trainings anbietet. Allen, die den Führerschein im Alter möglichst lange behalten wollen, kann Abenteuer Alter diese Angebote empfehlen. Allerdings erlebt der Experte immer wieder das Misstrauen der Betroffenen, sie könnten für immer den Führerschein verlieren, wenn sie so einen Kurs besuchen. Er beteuert glaubhaft, dass er nur dann an die Behörde berichtet, wenn er ausdrücklich als Gutachter beauftragt ist. 

Stummer hat auch eine gute Nachricht. Die Führerscheinbehörde kennt nicht nur das gefürchtete Entweder-Oder, sondern bietet auch einen Mittelweg an. Sie kann im Führerschein behördliche Einschränkungen etwa der Art eintragen, dass der Opa nicht mehr weiter als 50 Kilometer fahren darf und dass Nachtfahrten und Autobahnen für ihn tabu sind. Aber er verliert nicht gleich jede selbstbestimmte Mobilität.  

In der Praxis erlebt der Fahrschulprofi auch Fälle von freiwilliger Selbstbeschränkung, wenn ältere Personen nach längeren Spitalsaufenthalten zu ihm kommen. Oft sind es die Angehörigen, die solche Personen motivieren, ihre Fahrtauglichkeit testen zu lassen, bevor sie sich wieder ans Lenkrad setzen. Das setzt allerdings die Fähigkeit zur Selbstkritik voraus, wie sie ein durchaus typischer älterer Autofahrer bewies. Der 80-jährige Zisterziensermönch Pater August Janisch von Stift Rein war als Seelsorger jedes Jahr viele tausend Kilometer unterwegs, bis er bemerkte, dass sein Sehvermögen bedenklich nachlässt. Er hat das Auto hergegeben und die Augenärztin hat ihm zu dieser Entscheidung gratuliert.

Bei den Fahrten mit älteren Leuten erlebt Fahrschulprofi Stummer nicht nur Kritikfähigkeit, Vernunft und Einsicht, sondern auch das Gegenteil. Als er eine 90-Jährige bei so einer Fahrt darauf hinwies, dass sie einem Linienbus bedenklich nahegekommen war und eine Frau mit Kinderwagen auf dem Zebrastreifen nicht beachtet hatte, bekam Stummer nur böse Worte zu hören. Seine Erfahrungen decken sich mit denen eines Kollegen aus München, Toni Hubalek, der wegen seiner Erlebnisse bei Fahr-Fitness-Checks für Senioren sogar Auftritte im Fernsehen hatte. Er erzählt, dass vielen älteren Fahrern ihre Mängel gar nicht bewusst sind. Ein 78-Jähriger, dem der Fahrlehrer nach vollbrachter Fahrt mehrere Fehler vorhalten musste, sagte auf die Frage, ob ihm das aufgefallen sei: „Eigentlich nicht.“ 

Doch die Mängel in der Fahrweise von Senioren lassen sich beheben, beruhigen Experten. Wer im Alter möglichst lange den Führer behalten will, sollte die Erfahrungen der Fahrschulprofis ernst nehmen. Sie beobachten typische Fehler, welche die Unfallstatistik bestätigt: Ältere missachten häufig den Vorrang anderer und sind unkonzentriert, etwa vor einem Zebrastreifen, sie fahren oft noch bei Gelb oder sogar Rot in eine Kreuzung, sie orientieren sich zu sehr an der Fahrbahnmitte, sie beherrschen den Schulterblick nicht, und machen Fehler beim Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren. So wie offenbar die beiden Grazer, die mit dem Auto in den Schaufenstern gelandet sind. 

Der wichtigste Ratschlag der Verkehrspsychologen lautet, irrelevante Informationen auszublenden und sich nur auf das Wichtigste zu konzentrieren. Das heißt, das Autofahren ernst zu nehmen und nicht als eine Nebentätigkeit abzutun, die man „mit links“ ausübt und mit jahrelanger Routine spielerisch beherrscht. Denn mit dem Alter geht schrittweise verloren, was Experten als Grundvoraussetzungen für eine sichere Verkehrsteilnahme auflisten: Ungetrübte Wahrnehmung, Reaktionsvermögen und ausdauernde Aufmerksamkeit. Was so spröde klingt, ist essenziell: gut Sehen und Hören, ein wacher Sinn und volle (nicht halbe) Konzentration. Peter Felber vom Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) in der Steiermark macht eine wichtige Ergänzung. Ältere Lenker, die sich nicht mehr ganz sicher fühlen, sollten gerade deshalb nicht weniger, sondern mehr mit dem Auto fahren. Es sei keine Lösung, nur noch selten mit dem Auto zu fahren, etwa einmal pro Woche zum Einkaufen oder in die Kirche. „Mit jedem Kilometer weniger geht der größte Vorteil der Senioren verloren, die wertvolle Routine.“  

Ihre Routine bestätigten den Senioren am Steuer auch die Unfallstatistik. Die Unfallhäufigkeit der Autofahrer ab 65 Jahren unterscheidet sich nach den Daten von Statistik Austria kaum von den anderen Altersgruppen, wobei natürlich die 15- bis 24-Jährigen die größten Gefährdeten und Gefährder sind. Doch ab etwa 75 Jahren lässt die Verkehrssicherheit doch nach, so die Daten. 

ÖAMTC-Experte David Nosé nützt den Interpretationsspielraum der Statistik für die Beteuerung, Senioren seien keine Risikogruppe im Straßenverkehr, ihr Unglücksrisiko sei geringer als im Durchschnitt. Klaus Robatsch vom Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) räumt „strukturelle Schwächen“ der Senioren am Volant ein, sie würden diese aber auf andere Art kompensieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist langsamer, die körperliche Motorik schwächer und beim Sehen und Hören hapert es. Dem setzen sie aber die Vorteile des höheren Alters entgegen, so Robatsch. Sie haben Routine, müssen niemandem mehr etwas beweisen oder vermeiden Fahrten bei Dunkelheit und schlechter Sicht. 

Einen Umstand können die wohlmeinenden Experten nicht leugnen: Wenn es kracht, fallen die Verletzungen älterer Personen besonders schwer aus. „Mit zunehmendem Alter verunglücken die Personen zunehmend schwerer“, heißt es im Jahresbericht der Statistik Austria. Das gilt natürlich besonders für die am wenigsten geschützten Verkehrsteilnehmer, die Fußgänger und Radfahrer. 2021 waren 21 von 37 tödlich verunglückten Fußgängern und 26 von allen 50 getöteten Radlern 65 Jahre und älter. 

Abenteuer Alter gewann bei den Recherchen den Eindruck, dass die Gesellschaft die Senioren weitgehend allein lässt, wenn sie nach Jahrzehnten mit dem Autofahren aufhören (müssen). Öffentlicher Verkehr ist fast keine Option, weil es ihn außerhalb der Städte praktisch nicht gibt. Mehr als Lippenbekenntnisse sind von der Politik nicht zu hören. Das Verkehrsministerium übermittelte eine karge Stellungnahme, es sei „wichtig“, dass Mobilität auch ohne Auto möglich ist. Mehr als das Bekenntnis, „Mobilitäts- und Verkehrsberatungen für ältere Menschen auszubauen“ war auf Anfrage aber nicht zu erfahren. Damit kommen Senioren ohne Auto genau keinen Meter weiter.   

Neuen Zündstoff für die Debatte liefert ein Vorschlag der EU-Kommission. Der Führerschein für alle europäischen Autofahrer ab 70 soll nur noch für fünf Jahre gelten, dann würde regelmäßig ein verpflichtender Test erfolgen. Brüssel will damit die derzeit unterschiedlichen Regelungen harmonisieren. Dänemark, die Schweiz oder Spanien haben schon Regelungen dieser Art, ohne dass es einen Aufstand der Betroffenen gab. Da 2024 allerdings Europawahlen anstehen, kann Entwarnung gegeben werden. Bis dahin traut sich kein Politiker an das Thema heran. Ob es danach jemand probieren wird, steht in den Sternen. Denn die Senioren sind auch eine mächtige Wählergruppe. 

Text von Johannes Kübeck
Bilder von shutterstock
Beitrag veröffentlicht am 25.07.2023