Wie Wolfgang Müller-Lorenz mit seiner Stimme ein großes Publikum begeisterte.
Unglaubliche 120 Jahre sind es bereits her, dass im Grazer Opernhaus zum ersten Mal die Lichter angingen. Genau gesagt, war es an einem Samstag, dem 16. September 1899, als das Publikum begeistert zu Schillers „Wilhelm Tell“ applaudierte, nachdem noch am Vormittag feierlich der Schlussstein gesetzt worden war. Bereits am nächsten Tag aber stand schon Richard Wagners „Lohengrin“ am Spielplan. Mit dem deutschen Komponisten und seinen unsterblichen Opern wird von da an Graz immer eine besondere Bindung pflegen und einer der ganz großen Wagner-Interpreten, Publikumsliebling über fast 20 Jahre, der ein wesentliches Kapitel zur Erfolgsgeschichte des Hauses beigetragen hatte, ließ für „Abenteuer Alter“ in einem seiner ganz seltenen gewährten Interviews diese Zeit Revue passieren – der Heldentenor Wolfgang Müller-Lorenz.
Der leicht ergraute Herr, seine klassische nackenlange Siegfried-Mähne ist etwas kürzer geworden, dafür trägt er das Barthaar etwas länger als es die übliche Drei-Tages-Variante empfiehlt, bittet in sein Haus, das ohne weiteres ein Schüler von Mies van der Rohe geplant haben könnte und das er nach vielen Jahren Landleben in Hörgas vor rund zehn Jahren in Graz zwischen Mariagrün und Mariatrost errichten ließ. Natur und Innenraum werden dort eins. Unter Weglassung der geometrischen Ordnung entsteht jene Gemütlichkeit, die dem Gast sofort signalisiert: Hier wohnt man nicht nur, hier lebt man. Man, das sind der Künstler mit seiner Gattin Marlis, selbst an der Grazer Kunst-Uni in der Veranstaltungsebene tätig und Sohnemann Nicolas, der nach erfolgreichen Tätigkeiten im Regiefach sein praktisches Können nun auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen im Rahmen eines Studiums erweitern wird. Und zwei beneidenswert umhätschelte Mitbewohner schleichen auf leisen Pfoten im und ums Haus – Kater Chu Chu und die Katzendame Fritzi.
Eine Frage bleibt dem Wahlsteirer mit „Kölner Wurzeln“, der die heitere Munterkeit eines Frühstücks-Fernsehmoderators versprüht, gleich zu Beginn nicht erspart: War ihm der Opernsänger in die Wiege gesungen? „Beileibe nicht,“ lacht heute Müller-Lorenz darüber, „das hat sich nicht mit den Vorstellungen meines Vaters gedeckt. Für ihn gab es nie die Möglichkeit zu studieren, er war im schon vor und im Zweiten Weltkrieg Flugzeugtechniker. Aber der Sohn sollte, praktisch stellvertretend für ihn, Technik studieren dürfen. Und müssen.“ Das Technikstudium hat er zwar hoffnungsvoll begonnen, dann aber hat der junge Student doch die Abzweigung in Richtung Gesang und Schauspiel eingeschlagen. „Das bedeutete aber auch die Einstellung jedweder Unterstützung von zuhause. Einzig meine Großmutter hat mich mit hundert D-Mark pro Monat gesponsert.“ Also: Werkstudent. Regieassistent beim Westdeutschen Rundfunk, Sprecherqualifikation erfüllt, schließlich eine Studium-Freistelle wegen besonderer Begabung. Das war im Zeitraffer die Ausbildungsphase des jungen Baritons und späteren Tenors, der bald die Karriereleiter in rasantem Tempo hochklettern wird. Eine Karriere, die Höhen noch über das hohe C hinaus bis zum Dis hinauf kannte – aber auch Tiefen. Diese waren jedoch nicht gesanglicher Natur.
Der charmante Hausherr, dem niemand den Jahrgang 1946 abnehmen würde, braut selbst für den Gast und für sich einen Kaffee und beginnt schon währenddessen über sein facettenreiches Künstlerleben zu erzählen.
Begonnen hat alles, daran erinnert sich Müller-Lorenz genau, am 20. Dezember 1967 mit einem Auftritt bei einem Adventkonzert in der Markuskirche in Porz, einem heutigen Stadtteil von Köln am rechten Rheinufer. Nicht lange und ein Engagement folgte dem anderen, aus Wolfgang Müller war längst Müller-Lorenz geworden. „Ich habe den Mädchennamen meiner Mutter dem Müller hinzugefügt, das war‘s.“ Ein kleiner Unterschied zu allen Müllers schien angezeigt, von wegen „Also Müller heißen Sie? Ja den Namen habe ich schon mal gehört.“ Außerdem gibt es einen Schauspieler und Synchronsprecher Wolfgang Müller und einen weiteren, den in den Fünfziger-Jahren bekannten Kabarettisten und Schauspieler Wolfgang Müller gab es – er war 1960 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
Jetzt standen dem jugendlichen Bariton bald auch die großen Bühnen Deutschlands offen, Bariton gesucht, Müller-Lorenz war zur Stelle. Nicht lange und er trug den Beinamen der „Bundes-Falke“. Die Partie des Notars Dr. Falke aus der Johann Strauß-Operette „Die Fledermaus“ schien ihm auf den Leib geschrieben zu sein. Den Falke spielte er quer durch die Bundesrepublik.
Noch wusste er nicht einmal selbst davon, aber ein in ihm schlummerndes Talent wurde ihm als „Silvio“ in „Der Bajazzo“ anlässlich einer Vorstellung im Gärtnerplatztheater in der Münchner Isarvorstadt offenbart: „Burli, du weißt schon, dass du ein Tenor bist?“ wandte sich der väterliche Freund, der damals berühmte Heldentenor Hans Hopf an ihn. Den Tenor-Bazillus trug Müller-Lorenz seitdem latent in sich, es sollte aber noch Jahre dauern, bis er vollends ausbrach.
„Nach Graz bin ich 1980 noch als Bariton gekommen. Meine erste Partie?“ das war im März 1980 als Papageno in der Zauberflöte. Und Abschied vom Grazer Opernhaus nahm ich 1997 als Tristan.“
Die siebzehn Jahre zwischen Mozart und Wagner spannen einen Bogen über ein Künstlerleben in der Stadt an der Mur, wie es faszinierender kaum vorstellbar ist. Neben den vielen Bariton-Partien erinnert er sich gerne an den „Hermann“ in Tschaikowskys „Pique Dame“, aber auch an die vielen Gastauftritte an der Wiener Staatsoper, bei den Salzburger Festspielen, München, Paris, Tokio… die Reihe ist lang.
Zwei Jahre dauerte der Umstieg – es war ein beinhartes Umlernen – von Bariton auf Tenor. „Ich musste dabei zweigleisig arbeiten, noch Baritonrollen singen und schon als Tenor auftreten. Schließlich konnte ich ja nicht Urlaub nehmen und sagen ‚Schön, in zwei Jahren komme ich wieder als Tenor zurück.‘ Man muss auch von etwas leben.“
Aus dem lyrischen Bariton war nun in kurzer Zeit der Wagner-Heldentenor Müller-Lorenz geworden, erst 35 Jahre alt. Auf die Frage, welche Wagner-Tenorpartien er gesungen hat, wird er nur antworten: „Da sind wir schneller, wenn ich aufzähle, welche nicht. Es waren zwei.“
Eine davon war der Walther von Stolzing in den Meistersingern. Herbert von Karajan war auf den jungen Mann aufmerksam geworden und hatte ihn zum Vorsingen nach Salzburg eingeladen. „Sehr beachtlich,“ zeigte sich der Maestro beeindruckt, „jetzt studieren Sie ein Jahr den Stolzing und dann treffen wir uns wieder“. Dann später: „Wenn Sie es jetzt gut anfangen, fahren Sie in fünf Jahren einen Mercedes 500“ oder Schubkarre.“, so der Maestro.
Man traf sich wie vereinbart nach einem Jahr, Müller-Lorenz sang vor, im Zuschauerraum saß auch Luciano Pavarotti und klatschte mit weitausholender Geste mit über den Kopf erhobenen Händen. „Bravo!“ Und Karajan zeigte sich zufrieden. Es kam trotzdem anders, vertragliche Bindungen stellten sich als ein unüberwindbares Hemmnis heraus.
Dafür erlebte Müller-Lorenz in Graz eine wunderbare Zeit mit dem Intendanten Prof. Dr. Carl Nemeth und Christian Pöppelreiter, der damals unter anderem den „Ring des Nibelungen“ inszenierte – das Grazer Publikum hatte einen neuen Heldentenor zu seinem Liebling erkoren, die Inszenierung genießt heute noch einen Kultstatus und der gesangliche Hauptdarsteller erhielt den liebevoll-scherzhaft gemeinten Beinamen „Siegfried vom Dienst.“
Ob MüLo, wie ihn seine Kollegen der Einfachheit halber nannten, in einer der vielen Wagner-Rollen eine ganz besondere Lieblingspartie sah? „Eigentlich nein, weil immer die Rolle, die ich gerade darstellte, meine Lieblingsrolle war. Egal ob Siegfried, Siegmund oder der Loge oder…“ Dass er zuhause gerne ein schwarzes T-Shirt mit den weiß aufgedruckten ersten zwei Textzeilen der Siegmund-Szene aus der „Walküre“ „Winterstürme wichen dem Wonnemond, in mildem Lichte leuchtet der Lenz…“ trägt, könnte doch auf eine bestimmte Vorliebe schließen lassen.
1997 brachte dann eine große Wende, als Tristan verabschiedete sich MüLo von seinem Grazer Publikum. Misstöne hatte es nicht auf der Bühne, aber mit der Leitung des Hauses Dr. Brunner gegeben. Der von ihm sehr geschätzte Intendant Dr. Carl Nemeth war 1990 in den Ruhestand getreten, mit dem neuen Chef Gerhard Brunner lief es nicht mehr ganz friktionsfrei. Jetzt folgten unter anderem Washington, New York, Tokyo, München, Paris, Barcelona und London, wo MüLo den Tristan sang. „Ich fühlte, dass in meinem Körper etwas Undefinierbares vor sich ging.“ Nach kurzem Aufenthalt in der Heimat und nach ein paar Tagen Ruhe ab nach Madrid. Dort als „Loge“ in „Das Rheingold“ musste er bei einem Arztbesuch erfahren, dass eine Herzklappe nach einem chirurgischen Eingriff verlangte, Operation 2002 im AKH Wien, alles bestens verlaufen, aber danach die brutale Ernüchterung: hatten sich größte Opernhäuser kurz zuvor noch um den Kölner aus Graz gerissen („Sie sind der weltbeste Loge“), so hatte man jetzt offen gezeigte Scheu, ihn zu engagieren, es könnte vielleicht etwas passieren. Müller-Lorenz: „Da stehst du auf einmal da und hast kein Einkommen mehr.“
Aber es hätte nicht zum Positivdenker und Kämpfer Müller-Lorenz gepasst, den Kopf resignierend in den Sand zu stecken. Also auf zu neuen Ufern. Aus dieser Zeit stammen seine „Chansons da Mur“. MüLo erinnerte sich auch, dass er nicht nur Sänger sondern auch gelernter Schauspieler war und trat in der „Kleinen Komödie“ gemeinsam mit Urs Harnik bei Robert Weigmüller auf.
Er initiierte als Ideengeber und Projektleiter (gemeinsam mit Brigitte Oberzaucher als Finanzexpertin) mit dem Komponisten Viktor Fortin die Kirchenoper „Franz Jägerstätter“, die zum 100-sten Geburtstag des oberösterreichischen Nazi-Opfers am 22. September 2007 in der Grazer Franziskanerkirche uraufgeführt wurde. Nach einem Gastspiel dieses Werkes im Linzer alten Dom wurde Franz Jägerstätter im neuen Dom zu Linz seliggesprochen.
Der Wiederaufstieg schien geschafft – bis zur nächsten Hiobsbotschaft: unerträgliche Schmerzen in den Knien, gehen nahezu unmöglich. „Wenn,“ so MüLo, „dann nur kurz und das mit viel mit Voltaren 100.“ Eine Operation war der einzige und letzte Ausweg. Dr. Florian Fankhauser wurde konsultiert und erklärte sich für den Eingriff bereit: „Ja dann machen wir einmal ein Knie, später einmal das andere.“ Der zwar nicht für seinen Langmut, aber dafür für sein Durchsetzungsvermögen bekannte Patient: „Machen wir doch beide auf einmal.“ So geschah es dann auch. Arzt und Patient waren mit dem Ergebnis mehr als zufrieden, Rehab in Frohnleiten und jetzt ist Müller-Lorenz wieder der alte, ewig jung Gebliebene. Nur mit einem kleinen Unterschied: Heute singt er nicht mehr selbst, sondern hat sich in den Dienst der Nachwuchspflege gestellt.
Bildquelle: beigestellt
Beitrag veröffentlicht am 29. November 2019.